Transcription of the letter | ER/RA
25. Oktober, 1955
Herrn Paul Sacher,
Schönenberg,
Pratteln, Basel.
Lieber Herr Sacher,
ich habe nun nochmals eine gute Weile mit Martinus GIGLAMESCH vebracht, aber ich kann mich für das Werk nicht se erwärmen, wie ich es wahrscheinlich sollte. Ein modernes Chorwerk hat heutzutage an sich schon einen sehr schweren Stand, denn die Aufführungsmöglichkeiten sind wegen der Kosten sehr beschränkt. Darum muss ein Chorwerk wirklich ausserordentlich sein, um diese Schwierigkeiten zu überwinden. Das ist nun GILGAMESCH nach meinem Dafurhalten leider nicht.
Einmal ist die Textgestaltung nicht sehr glücklich. Der Text baut sich im ersten Teil gut auf, verflacht im zweiten und verfehlt, nach der eindrucksvollen “Invocation” seinen Höhepunkt. Es ist leider mit Martinu immer dieselbe Geschichte: er lässt die Dinge nicht in sich reifen und gönnt sich nicht die Zeit, sie richtig zu disponieren. Ich kenne niemanden, der so gar nicht altert wie er. Er stürzt sich mit 63 immer noch wie ein Berserker auf jeden neuen Stoff und schlingt ihn in einem Happen herunter.
So geht es auch mit der Musik. Er schreibt viele Noten aber wenig Musik. Es sind sehr schöne stellen im GILGAMESCH, hauptsächlich im 1. und 3. Teil, aber der Gesamteindruck ist doch nicht einheitlich und ganz befriedigend. Ich bin auch nicht sicher, ob ein nur gelegentlich verwendeter Sprecher nicht eine Verlegenheitslösung ist.
Ich fürchte also, dass wir uns zur Herausgabe nicht werden entschliessen können. Ich kann nicht sehen, wie die sehr hohen Kosten mit ein paar gelegentlichen Aufführungen gedeckt werden könnten. Man schreibt // [verso] mir aus Prag, dass dort ein anderes neues Oratorium von Martinu liegt (Otvírání studny [sic] – “Die Eröffnung der Quelle”), von dem ich nichts kenne. Martinu hat eben in den letzten zwei Jahren eine dreiaktige Oper (La Locandiera) offenbar zwei Oratorien und vier Orchesterwerke geschrieben – das kann kein Musikbetrieb konsumieren, weder ein Verlag noch die Dirigenten. es ist schade. Martinu hat immer noch viele gute Ideen und kann sich nicht so weit disziplinieren, dass er sie in einer grossen, wohlüberlegten Anstrengung zusammenfasst.
Verzeihen Sie die Ausführlichkeit, lieber Herr Sacher, aber der Fall Martinu hat mir in den letzten Monaten viel Kopfzersrechen gemacht.
Ich schicke Ihnen die Partitur mit vielen Dank zurück. Der Text zumindest bedarf einer sorgfältiger Revision!
Ich bin mit herzlichen Grüssen,
Ihr
[podpis]
Dr. E. Roth.
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